Isabel Allende im RND-Interview: „Ich habe mehr Ideen im Kopf, als Stunden zum Schreiben“

Frau Allende, Sie beginnen jedes Buch am 8. Januar. Warum?
Mein erstes Buch habe ich am 8. Januar angefangen. Ich lebte zu der Zeit in Caracas und bekam einen Anruf, dass mein Großvater in Chile im Sterben lag. Am 8. Januar fing ich an, ihm einen Brief zu schreiben. Auch nach seinem Tod schrieb ich immer weiter. Nach einem Jahr hatte ich einen Roman: „Das Geisterhaus“. Das Buch war von Anfang an sehr erfolgreich. Also fing ich mein zweites Buch ebenfalls am 8. Januar an, auch ein bisschen aus Aberglauben. Seitdem beginne ich jedes Buch an diesem Tag.
Glauben Sie also, es würde Unglück bringen, ein neues Buch an einem anderen Tag zu beginnen?
Ich glaube schon. (lacht) Ich habe 31 Bücher geschrieben und alle am gleichen Tag begonnen. Warum das Glück herausfordern? Aber es geht auch um Disziplin. Ich habe ja keinen Chef, der mir Deadlines setzt.
Haben Sie noch andere Rituale?
Nein. Es gibt Dinge, die ich regelmäßig mache, aber auch eher aus Disziplin. Ich stehe früh auf, trinke Kaffee, gehe mit den Hunden und fange dann an zu arbeiten. Ich ziehe mich immer an, als würde ich ausgehen, auch wenn das gar nicht der Fall ist. Sonst würde ich im Pyjama leben. Beim Schreiben zu Hause sieht mich ja keiner. Aber mir ist es wichtig, wie ich aussehe.
Sie haben gerade erzählt, dass ihr erstes Buch, „Das Geisterhaus“, mit einem Brief an Ihren Großvater begann. Welche Bedeutung hat das Briefeschreiben für Sie?
Das ist eine lange Gewohnheit. Meine Mutter war mit einem Diplomaten verheiratet. Wir lebten fast unser gesamtes Leben lang getrennt, aber wir schrieben uns immer Briefe. Später habe ich alle Briefe archiviert und chronologisch sortiert. Insgesamt sind es 24.000 Briefe. Ich brauche also kein gutes Gedächtnis, weil alles aufgeschrieben ist. Das ist ein Schatz. Aber seit meine Mutter 2018 gestorben ist, schreibe ich kaum noch Briefe. Die Tage verwischen, als wäre nichts passiert, weil ich es nicht aufgeschrieben habe.
Heute schreibt fast niemand mehr Briefe. Was geht dadurch in der Gesellschaft verloren?
Die Welt verändert sich. Man kann nicht erwarten, dass das, was im 19. Jahrhundert funktioniert hat, auch heute noch funktioniert. Wir können nicht nostalgisch an einer Vergangenheit festhalten, die nicht zurückkommt. Vieles ist verloren gegangen, aber dafür gibt es neue Dinge.
Künstliche Intelligenz ist eine dieser neuen Technologien. Was bedeutet KI für die Literatur?
Eine Journalistin hat mal die KI gebeten, einen Liebesbrief in meinem Stil zu schreiben. Es war grauenhaft! Kitschig und sentimental. So etwas hätte ich nie im Leben geschrieben. In manchen Bereichen ist Künstliche Intelligenz sicherlich schon sehr hilfreich, aber in der Kunst funktioniert sie meiner Meinung nach noch nicht. Das wird sich aber irgendwann ändern.

„Mein Name ist Emilia del Valle“ ist das jüngste Buch von Isabel Allende. Anfang August ist es in Deutschland erschienen.
Quelle: IMAGO/SOPA Images
Sie haben also keine Angst, dass KI bald Schriftstellerinnen und Schriftsteller ersetzt?
Im Moment nicht, aber in Zukunft könnte das passieren. Aber warum soll ich mir Sorgen über etwas machen, das noch nicht passiert ist?
In Ihrem neuen Buch geht es um eine junge US-amerikanische Journalistin, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Chile geht, um über den dortigen Bürgerkrieg zu berichten. Wie so oft in Ihren Büchern ist die Protagonistin eine starke und selbstbewusste Frau. Reizt es Sie nicht, auch mal über andere Charaktere zu schreiben?
In einigen Büchern habe ich auch männliche Figuren. Aber ich schreibe gerne über Frauen, weil ich sie sehr gut kenne. Ich bin von starken Frauen umgeben. Weibliche Stimmen wurden jahrhundertelang unterdrückt. Als ich 1981 mit dem Schreiben begann, boomte gerade die lateinamerikanische Literatur, aber es waren nur Männer. Dabei gab es Frauen, die geschrieben haben, aber sie wurden mehr oder weniger ignoriert. Die Männer bekamen die gesamte Aufmerksamkeit. Wenn ich schreibe, versuche ich denjenigen eine Stimme zu geben, die unterdrückt wurden, also Frauen, Kindern, Armen und sogar Tieren.
Warum sind Sie, im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Schriftstellerinnen, berühmt geworden?
Ich hatte Glück. Mein Buch erschien noch in der Zeit des lateinamerikanischen Literaturbooms. Es gab, wie gesagt, keine weibliche Stimme, und dann kam ich. Außerdem heiße ich Allende. Nach dem Putsch durch Pinochet war Salvador Allende ein internationaler Held. All das hat sicherlich geholfen, dass man auf mich aufmerksam wurde.
Was ist für Sie eine starke Frau?
Eine starke Frau ist für mich jemand, die sich nicht unterkriegen lässt. Meine Stiftung arbeitet mit vielen Frauen, die alles verloren haben. Manche sogar ihre Kinder. Trotzdem kämpfen sie weiter und leben ein Leben der Großzügigkeit, manchmal sogar mit Freude. Wir kooperieren auch mit Organisationen, die an der Grenze zu Mexiko arbeiten. Die meisten Helferinnen dort sind Frauen. Dort gibt es kein Geld und keinen Ruhm, nur Herz. Und genau diese Frauen interessieren mich, weil niemand über sie spricht. Aber sie sind fantastisch.
Emilia geht also in den chilenischen Bürgerkrieg, einen Krieg, den viele im Ausland vermutlich gar nicht kennen ...
In Chile auch nicht. Dort setzt sich kaum jemand richtig mit der Geschichte auseinander. Vielleicht lernt man etwas im Geschichtsunterricht darüber, aber dann wird es in der Regel schnell wieder vergessen.

Isabel Allende hat bisher 31 Bücher geschrieben, etwa alle 18 Monate eines. Hier war sie 2019 bei der „lit.cologne“ zu Gast.
Quelle: imago images/APress
Warum haben Sie diesen Konflikt als Schauplatz Ihres neuen Buches gewählt?
Weil er Parallelen zum Putsch im Jahr 1973 hat. In beiden Fällen gab es einen progressiven Präsidenten, der viel verändern wollte. Beide stießen auf massiven Widerstand aus dem konservativen Lager und beide Male griff das Militär ein. 1891 führte das zu einem brutalen Bürgerkrieg, in dem innerhalb von vier Monaten mehr Chilenen starben als in vier Jahren Krieg gegen Peru und Bolivien. 1973 endete es mit einem Putsch und 17 Jahren Diktatur. Beide Präsidenten nahmen sich das Leben, statt zu kapitulieren oder ins Exil zu gehen. Diese Parallelen fand ich so interessant, dass ich darüber schreiben wollte.
Sie leben seit knapp 40 Jahren in den USA. Gerade scheint sich das Land unter Donald Trump immer mehr zu einem autoritären System zu entwickeln. Fühlen Sie sich an den Putsch in Chile zurückerinnert?
In Chile geschah alles sehr plötzlich. Innerhalb von 24 Stunden war die Demokratie zerstört. Das, was gerade in den USA passiert, ähnelt eher den Geschichten von Argentinien. Dort verloren die Menschen während des „Schmutzigen Krieges“ ihre Rechte schleichend. Die US-Amerikaner wissen nicht, was ein autoritäres Regime ist, weil sie es noch nie erlebt haben. Wir in Lateinamerika schon, deshalb habe ich eine genauere Vorstellung davon, was passieren kann.
Was fühlen Sie dabei? Sie mussten schließlich schon einmal ins Exil fliehen.
Als ich aus Chile geflohen bin, hatte ich Angst. Ich hatte zwei kleine Kinder und ich wollte nicht in einem Land leben, in dem man mich jederzeit festnehmen oder meine Kinder vor mir foltern konnte. Heute bin ich 83 Jahre alt. Was soll mir noch passieren? Aber ich habe Angst um meinen Sohn und um meine Enkel. Wir sind alle lateinamerikanische Immigranten, jeder von uns könnte abgeschoben werden. Ich glaube nicht, dass es passiert, aber möglich ist alles. Die USA sind ein sehr gewaltvolles Land, auch historisch betrachtet. Jeder kann hier mit einer Waffe auf der Straße herumlaufen.
Können Sie sich vorstellen, die USA zu verlassen, wenn die Situation eskaliert?
Ja.
Was müsste dafür passieren?
Wenn ich das Gefühl hätte, dass mein Sohn bedroht ist, zum Beispiel. Solange ich hier bin und meine Stiftung den Menschen helfen kann, habe ich das Gefühl, eine Aufgabe zu haben. Aber die Möglichkeiten werden immer weiter eingeschränkt.
Die US-Einwanderungsbehörde ICE verhaftet teilweise wahllos lateinamerikanische Immigranten, auch solche, die nie straffällig geworden sind. Damit werden Lateinamerikaner pauschal mit Verbrechern gleichgesetzt. Was sagt das über den Rassismus in der US-Gesellschaft?
Diese Menschen halten das Land am Laufen. Sicherlich gibt es auch Kriminelle unter ihnen, aber sehr wenige. Es ist ähnlich wie bei den Juden in Deutschland. Alle wurden pauschal verdächtigt. Das ist zutiefst rassistisch, und ich denke, es wird noch schlimmer werden.

Isabel Allende lebt seit fast 40 Jahren in den USA. Während der chilenischen Militärdiktatur floh sie zunächst nach Venezuela. Die aktuellen Entwicklungen in den USA wecken dunkle Erinnerungen.
Quelle: Fernando Sánchez/EUROPA PRESS/d
In vielen Themen sind lateinamerikanische Länder weiter als die USA. In Argentinien ist die Ehe für alle schon seit 2010, Schwangerschaftsabbrüche sind dort seit 2021 bis zur 14. Woche legal und kostenfrei. Trotzdem werden die Vereinigten Staaten oft als Vorreiter gesehen. Sprechen wir zu viel über die USA?
Die USA haben sich zurückentwickelt. Die US-amerikanische Demokratie ist kein Vorbild mehr. Wir werden sehen, ob Trump sein Ziel erreicht, nämlich eine Diktatur zu errichten, die viele Jahre dauern kann. Sie werden es natürlich nicht so nennen, aber im Grunde ist es das.
Momentan dreht sich die Welt rückwärts. Was macht Ihnen noch Hoffnung?
Die jungen Menschen. Ich vertraue darauf, dass sie alles verändern werden und wir auf eine Welt zusteuern, die anders ist. Eine Welt der Technologie und der Wissenschaft. Das macht mir Hoffnung.
Sie haben vor Kurzem Ihren 83. Geburtstag gefeiert. Worum beneiden Sie diese Generation?
Um all die Möglichkeiten, die sie haben. Jede Generation hat andere Herausforderungen. Ich glaube, dass jede Generation etwas zur Menschheit beiträgt. Gerade scheint es, als würden wir uns zurückentwickeln, aber der große Bogen der Geschichte geht in Richtung Fortschritt.
Sie haben 31 Bücher geschrieben, etwa alle 18 Monate eines. Woher nehmen Sie die Kraft und die Inspiration?
Das Einzige, was ich mache, ist Schreiben. Das ist mein Leben, meine Welt. Solange ich klar im Kopf bin, will ich weiterschreiben. Ich liebe es. Ich habe mehr Ideen im Kopf, als Stunden zum Schreiben. Durch das Alter habe ich weniger Energie, aber nicht weniger Ideen.
Gibt es eine Geschichte, die Sie unbedingt noch erzählen wollen?
Nein. Ich denke nie daran, was ich in der Zukunft machen werde. Ich konzentriere mich auf das aktuelle Projekt und versuche, das zu beenden, um am nächsten 8. Januar wieder frei zu sein. Dann schaue ich, was kommt.
Und - sind Sie schon wieder frei für den 8. Januar?
Ganz und gar nicht. Ich redigiere gerade ein Buch, das ich letztes Jahr geschrieben habe. Außerdem habe ich eine Autobiografie begonnen, die ich fertig schreiben will. Ich bin also überhaupt nicht frei, aber das ist egal. Solange ich Ideen, Zeit und die Gesundheit habe zu schreiben, bin ich glücklich.
rnd